„Von dem, was bleibt“ – Dokumentarfilm über die Suche nach dem verschollenen Urgroßvater
offizielles Kinoplakat
Es ist eine herausfordernde Erfahrung, sich selbst in einem Dokumentarfilm zu sehen, der eine persönliche Geschichte erzählt. Der 90-minütige Film meiner Tochter Johanna zeigt nicht nur ihre Suche nach Spuren ihres verschollenen Urgroßvaters, sondern auch ein Stück meiner eigenen Geschichte und meiner Beziehung zu meiner Mutter, die ohne ihren Vater aufwuchs.
Nun kommt er also vor das große Publikum. In den Abschnitten, in denen ich selbst zu sehen bin, ist es mir fast unmöglich, mich auf den Film einzulassen, zu groß ist der innere Widerstand. Dabei ist die Tatsache, dass mich jetzt unzählige unbekannte Menschen sehen und bewerten werden, eher das geringste Übel. Vielmehr ist es die Selbstbewertung, die mich berührt: Wie sehe ich da gerade aus? Oh Gott, wie rede ich da? Hätte man das nicht herausschneiden sollen?
Und dann der Impuls, all dies vor meiner Mutter zu verbergen. Ich möchte ihre Reaktionen des Entsetzens, des Leugnens und des Beschönigens nicht erleben. Diese mit passiver Aggressivität besetzte Opferrolle. Ich will sie vor ihrer typischen Reaktion schützen, den eigentlichen Schmerz nicht zulassen zu müssen. Wie tief ist dieses Muster in mir verankert, wie ich gerade spüre. Wie sehr empfinde ich es als Verrat an ihr, wenn ich über meine Gefühle spreche, die ihren Schutzmantel berühren.
Trotz allem bin ich sehr froh, dass dieser Film nach über drei Jahren endlich fertiggestellt wurde. Es war für Johanna ein wichtiger Prozess, sich auf dieses Projekt einzulassen, das auch ein Stück Klarheit und Verständnis in die Familie brachte. Ich bin mir bewusst, dass es ein Risiko war, mich selbst in dem Film zu zeigen. Aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Ich hoffe, dass der Film viele Menschen erreicht und sie dazu inspiriert, über ihre eigene Familiengeschichte nachzudenken.
Besonders freue ich mich, dass Johanna für ihr Projekt Anerkennung findet. Der Film ist für den Hessischen Film- und Kinopreis in der Kategorie „Bester Hochschulabschlussfilm“ nominiert, ebenso für den „Goldenen Herkules“ des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes.
Inhaltlich beschreibt der Film den langen Schatten von Krieg und Gewalt und deren Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen. Diese transgenerationale Weitergabe von Traumata als Folge von Handlungen, die sich gegen die Schöpfung richten, lasten wie ein Fluch auf den Familien. Ein Fluch, den schon die Bibel beschreibt: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen“ - 2. Mose 20,5
Und dieser Schatten hätte den Film beinahe selbst getroffen und seine Fertigstellung unmöglich gemacht. Zu Beginn der Dreharbeiten im Jahr 2020 war es die Corona-Pandemie und ihre Lockdowns, die der Spurensuche nach dem vermissten Urgroßvater im Wege standen. Erst im Spätsommer/Herbst 2021 öffnete sich ein kleines Zeitfenster, das es Johanna und ihrem kleinen Team ermöglichte, über Polen, die Ukraine, Moldau nach Transnistrien zu gelangen, wo sich die Spur des Urgroßvaters verliert. Nur wenige Monate später hätte der Krieg in der Ukraine die Reise unmöglich gemacht.
Diese Hürde, und noch einige weitere mehr, wurden überwunden, sodass nun unsere Familiengeschichte ihren Weg ins Kino findet. Die Jury des Hessischen Film- und Kinofestivals begründete die Nominierung wie folgt:
„Johanna Groß begibt sich auf die Suche nach ihrem im Zweiten Weltkrieg verschollenen Urgroßvater Josef Benz. Die Kamera begleitet sie zur Großmutter, die ohne Vater aufwuchs, zum Vater, der mit einer kriegstraumatisierten Mutter aufwuchs. In die Archive der Suchdienste und zur Kriegsgräberfürsorge, zum Traumapsychologen und in die Südostukraine (tatsächlich führte die Reise nach Transnistrien und Moldau) an Orte deutscher Kriegsverbrechen, zugleich letzte Ruhestätte namenloser Wehrmachtssoldaten. Johanna Groß zeigt mit großer erzählerischer Kraft und persönlichem Mut, wie Kriegstraumata über Generationen wirken und dass der Weg der Befriedung möglich ist – befreiend und schmerzhaft zugleich.“
Ich empfinde diese Begründung als eine treffende Zusammenfassung des filmischen Inhalts. Die Entstehung und Unterstützung dieses Films hat mich selbst tief beschäftigt. Auf meinem Blog habe ich das Thema bereits zweimal bearbeitet.
Im Jahr 2022 animierte mich ein Artikel in der Kasseler Stadtzeit, der über das Filmprojekt berichtete, zu einer Reflexion einer persönlichen Begebenheit, die ich bei den Dreharbeiten erlebte: https://www.lebensschätze.de/2022/07/der-vater-bin-ich.html
Jetzt tritt der Film seine Reise in die Welt an. Möge sein Weg erfolgreich sein, und viele Menschen berühren. Johanna und ihrem Team wünsche ich viel Anerkennung und Wertschätzung bei der Gala des hessischen Film- und Kinopreises am 20. Oktober in der alten Oper in Frankfurt am Main, sowie einen Monat später beim Kasseler DokFest.
12.10.2023
Nachtrag 21.10.2023:
Liebe Johanna,
ich möchte dir meine Bewunderung dafür aussprechen, dass du für den Hessischen Film- und Kinopreis in der Kategorie bester Hochschulabschlussfilm nominiert wurdest. Auch wenn du diesen Preis nicht gewonnen hast, denke daran, dass Nominierungen und Preise nur Momentaufnahmen eines bestimmten Augenblicks sind. Sie messen nicht den Wert deines Werkes.
Dein Film war ein wesentlicher Teil der gestern stattgefundenen Gala. Er hat den Ablauf mit seiner Mitwirkung unverwechselbar gestaltet. Viele der draußen Gebliebenen neiden dir deinen Platz und sehnen sich danach, durch diese Pforte zu treten, um ihre Geschichten zu erzählen.
Denke an diese Gala als den Augenblick der Geburt deines Films zurück, der einer langen Schöpfungsphase folgt.
Dein Film wurde unter dem Sternzeichen der Nominierung geboren. Diese Geburt gleicht dem Säen eines Samens. Wir wissen nicht, welche wunderschöne Blüte daraus hervorgehen wird, und wir verstehen seine Wachstums- und Lebensbedingungen bislang nicht. Doch wir können sicher sein, dass etwas Einzigartiges und Beeindruckendes geschaffen wurde.
Dein Talent und deine Hingabe haben dir zu dieser Nominierung verholfen, und das ist etwas, auf das du stolz sein kannst. Die Filmwelt ist ein Wettbewerb unter Talenten, und du gehörst zu den Besten.
Deine kreative Leidenschaft wird auch in Zukunft die Herzen vieler Menschen berühren, und ich bin überzeugt, dass noch viele Nominierungen und Preise auf dich warten. Deine Arbeit ist eine Quelle der Inspiration und wird die Herzen aller Menschen berühren.
Ich bin stolz darauf, als dein Vater Teil deiner Reise zu sein. Du bist eine außergewöhnliche Künstlerin, und ich freue mich darauf, weiterhin Zeuge deiner Erfolge und deines kreativen Schaffens zu sein.
Der Dokumentarfilm „Von dem, was bleibt“ von Johanna Groß erzählt die Geschichte ihrer Suche nach ihrem im Zweiten Weltkrieg verschollenen Urgroßvater. Sie reist zu den Orten, an denen er gekämpft und gelitten hat, und begegnet den Folgen von Krieg und Gewalt für ihre Familie und die nachfolgenden Generationen. Der Film ist für den Hessischen Film- und Kinopreis sowie den Goldenen Herkules nominiert.